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100 Dinge, die du über Klischees wissen musst

Mädchen müssen sich mit Schönheit, Pflege, Basteln,Kochen, Familie und Benimmregeln auskennen, während Jungen dringend einen gefährlichen Hai zeichnen, Abenteuer erleben und Muskeln aufbauen müssen. Zumindest wenn es nach den Büchern “100 Dinge, die ein Mädchen wissen muss” und “100 Dinge, die ein Junge wissen muss” aus dem Schwager & Steinlein Verlag geht.

Abfotografierte Bücher auf gelbem Hintergrund; links knallpinker Einband, rechts blauer Einband
Foto: klische*esc e.V.

Schon die Buchcover machen klar, in welchen beiden Welten wir uns während der Lektüre bewegen. Auf der einen Seite ein knallpinker Einband mit Schönheitsutensilien und eine gezeichnete Figur im Mangastil mit wallendem, langen blonden Haar und so realistischen Körpermaßen wie die einer Barbiepuppe. Der i-Punkt ist ein niedliches Herz. Auf der anderen Seite ein blauer Einband mit Fußball, Auto, Rakete und weiteren Utensilien, die allesamt “Abenteuer!” schreien. Da hätte es die explizite Nennung von “Mädchen” und “Junge” im Titel gar nicht gebraucht. Der Verlag macht es aber trotzdem, sicher ist sicher. Nicht dass eine verwirrte Seele noch zum falschen Buch greift und die Geschlechterordnung durcheinanderwirft.

Was Mädchen wissen müssen (aber Jungs nicht)

Im Inneren warten dann jeweils 100 sauber nach binärem Geschlecht getrennte Tipps auf die Kinder ab acht Jahren. Die Mädchen-Variante ist aufgeteilt in fünf Kapitel: 

  1. Schönheit und Pflege 
  2. Familie, Freundinnen & Co 
  3. Hobby, Basteln und Rezepte
  4. Wissen aus aller Welt
  5. Berühmte Frauen

Das letzte Kapitel ist ein Lichtblick in dem vor Stereotypen triefenden Buch, wenn auch nur ein kleiner – ganze sieben Frauen haben es ins Buch geschafft (mehr gibt es halt einfach nicht). Man fragt sich allerdings, warum nur Mädchen von den berühmten Frauen erfahren sollen. Aber na ja, über Kleopatra gibt es anscheinend nichts Wichtigeres zu berichten, als dass mächtige Männer den “Reizen der schönen Königin verfielen”, womit auch der Bogen geschlagen ist zum Anfangskapitel, in dem die geneigten Leserinnen erfahren, wie sie Wäsche frisch halten, ihr Haar zum Glänzen bringen oder die richtige Nagelfeile finden. In späteren Kapiteln lernen sie dann außerdem alles über eine schöne, gerade Haltung, das Tischdecken und Serviettenfalten. 

Entschuldigen Sie, sind das hier die 50er Jahre?

Ein besonderes Highlight wartet dann aber im vierten Kapitel: Tipp 87 dreht sich um Benimmregeln und erklärt, dass der Mann eigentlich immer links von der Dame gehe, es sei denn, er möchte sie “vor dem rechts befindlichen Straßenverkehr schützen”. Außerdem lautet die Benimmregel fürs Treppensteigen, dass “der Mann die Dame stets vorgehen lässt. Er soll die Dame nämlich auffangen können, falls sie stolpert. Vielleicht hat sie sich ja gerade neue Schuhe gekauft und rutscht auf den steilen Stufen aus!”. Ja, vielleicht hat sie aber auch gerade diese Klischeebombe gelesen und ist vor Schreck umgekippt. 

Foto: klische*esc e.V.

Fahrradreifen flicken mit oder ohne Hilfe? Kommt aufs Geschlecht an

Da wirkt es fast schon progressiv, dass der 90. Tipp sich aufs Flicken eines Fahrradreifens bezieht. Aber bitte nicht vergessen, dass es sich hierbei immer noch um Mädchen handelt! Die sollen sich bitte dabei helfen lassen, das Rad abzuschrauben und den Schlauch aus dem Mantel zu nehmen. Die Jungen hingegen bekommen in ihrem blauen Klischeeklopper erklärt, wie sie das Rad selbst ausbauen und den Schlauch lösen und so zum “Fahrrad-Flick-Profi” werden. Mädchen ist das mit ihren zarten, sauberen Mädchenhänden wohl nicht zuzumuten.

Schritt-für-Schritt-Anleitung "Flicke einen Fahrradreifen" in der Jungsvariante
Foto: klische*esc e.V.

Foto: klische*esc e.V.

Feuer und Geld machen

In 99 weiteren Tipps lernen die Jungs dann, wie sie einen gefährlichen Hai zeichnen, Feuer machen, anderen Streiche spielen, Rechentricks anwenden, wie sie ihr Taschengeld aufbessern und in die nächste Taschengeldverhandlung gehen. Psst, hier könnt ihr live beobachten, wie ein neuer Thomas oder Michael für Deutschlands Vorstände heranwächst. Und Kinder aus Familien, die sich keine Taschengelderhöhung leisten können? Tja, Pech gehabt. Das Buch zitiert einfach Oscar Wilde, dass Geld nun mal das Wichtigste im Leben sei. Kapitalismus –  ein Konzept, das schon die Kleinsten überzeugt.

Tipp 28: Bereite dich auf die nächste Taschengeldverhandlung vor
Foto: klische*esc e.V.

Rassistische Witze ok – aber bitte nicht rülpsen

Untermalt sind die handfesten Tipps mit (gar nicht mal so) lustigen Witzen, die teilweise auch noch rassistisch sind und das Wort “Cringe” in roten Buchstaben vorm inneren Auge erscheinen lassen. Witze auf Kosten von marginalisierten Gruppen, so lustig. Nicht-weiße Kinder oder Figuren kommen im Jungsbuch ansonsten überhaupt nicht vor, und auch Kinder mit Behinderungen werden in den Büchern weder repräsentiert noch mitgedacht.

Auch in der Jungen-Variante gibt es übrigens einen Tipp zu Benimmregeln. Da geht es dann aber um so grundlegende Dinge wie “Nicht Rülpsen in Gegenwart anderer” oder bei einer Geburtstagsfeier ein Geschenk mitzubringen. Bei den Mädchen wurde es wahrscheinlich für überflüssig gehalten, so etwas zu erwähnen (die werden ja höflich geboren), während Jungs das erst mühsam lernen müssen (diese ungehobelten Klotze, haha, von Natur aus). 

Auf der Rückseite werben beide Bücher noch damit, dass sie Kinder durch Wissensvermittlung fördern würden. Wir finden: Die Bücher fördern nichts als Klischeedenken und die Festigung veralteter Rollenbilder. Kinder werden damit in ihrer freien Entfaltung eingeschränkt und bekommen veraltete Werte vermittelt. Und, wie immer bei binären Produkten im Rosa-Hellblau-Duett: Kinder, die keinem der beiden Geschlechter angehören, werden ausgeschlossen und unsichtbar gemacht. Gendermarketing lässt ihnen keinen Raum.

Ein Wink mit dem Goldenen Zaunpfahl geht an den Schwager & Steinlein Verlag nach Köln und an Lidl, wo die Bücher verkauft werden.

(kr)

VÖ-Jahr: 03/2021