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„Da fällt ihm bestimmt was ab!“

Warum Genitalien-Witze keine gute Strategie gegen Gendermarketing sind

Von Konstanze Renken

TW Transfeindlichkeit

„Ob dem Kleinen wohl was abfällt, weil er die vermeintlichen Mädchensocken bekommt?“, „Dem Mädchen wächst bestimmt ein Penis, wenn sie mit dem Auto spielt!“, „Das sind so Männer, die denken, dass ihnen der Penis abfällt, wenn sie Rosa tragen“ oder auch „Nicht, dass meinem Sohn noch Brüste wachsen, wenn er mit einer Puppe spielt!“. Kommentare dieser Art finden sich immer wieder, wenn es um das Thema Gendermarketing und Rosa-Hellblau-Falle® geht, auch unter unseren Postings. Sie sind lustig gemeint, meist versehen mit lachenden Emojis. Es ist klar, dass die Kommentare ironisch formuliert sind, nicht ernst zu nehmen. Schließlich wollen die Kommentator*innen damit betonen, wie absurd Gendermarketing und seine Einordnung von Produkten und Kleidung in die Kategorien „Mädchen“ und „Junge“ sind.

Gesicht von Nahem mit geschlossenen Augen, auf dem Augenlid ist mit Lidschatten eine Transflagge gemalt
Credit: @kylewilliamurban via Unsplash

Absurde Zuschreibungen sind transfeindlich

Leider haben die Kommentare aber etwas gemeinsam: Ihnen liegt die unausgesprochene Annahme zugrunde, dass sich Geschlecht an Genitalien ablesen ließe. Penis wird mit Männlichkeit gleichgesetzt, Vulva/Vagina/Brüste mit Weiblichkeit. Ein Satz wie „Dem Jungen fällt bestimmt der Penis ab, wenn er ein Kleid trägt!“ kreiert damit ein Szenario, in dem Jungen einen (Groß-) Teil ihrer Männlichkeit verlieren, wenn sie vermeintliche „Mädchenkleidung“ tragen. Das erfüllt den Zweck, zu zeigen, wie absurd die Zuschreibungen „Für Mädchen/Frauen“ und „Für Jungen/Männer“ sind – denn natürlich büßt ein Junge nicht seine Männlichkeit ein, wenn er Kleidung trägt, die gesellschaftlich für Mädchen vorgesehen ist. Die Kommentare zeigen damit auf, dass die Zuschreibungen menschengemacht und keineswegs natürlich, gottgegeben, in der Natur des Menschen liegend sind.

Norm und Abweichung

Das Problem: Geschlecht lässt sich nicht an äußeren Geschlechtsorganen festmachen. Es gibt mehr als zwei Geschlechter. Und auch, wer sich einem der beiden Geschlechter in unserem binären Modell zugehörig fühlt, muss nicht zwingend mit den Genitalien ausgestattet sein, die in unserer Gesellschaft als „männlich“ oder „weiblich“ gelten. So gibt es trans Frauen, die nicht weniger Frau sind, weil sie einen Penis haben. Oder trans Männer, die nicht weniger Mann sind, weil sie keinen Penis haben (Sidenote: Bemerkenswert ist auch, wie sich ein Großteil der Kommentare um das Vorhandensein oder die Abwesenheit eines Penis‘ dreht, als würde sich Geschlecht vor allem darüber definieren. Vulven/Vaginas kommen vergleichsweise selten vor). Viele trans Menschen fühlen sich in ihren Körpern wohl und wünschen keine oder nur eine teilweise „geschlechtsangleichende“ Operation. Dennoch sind sie zweifelsfrei trans. Und auch bei den zahlreichen nicht-binären Personen lassen die Genitalien keine Rückschlüsse aufs Geschlecht zu. Das funktioniert nur bei cis Menschen (also diejenigen, bei denen das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht mit dem tatsächlichen Geschlecht übereinstimmt). Damit werden cis Menschen zur Norm gemacht, Transidentitäten sind die Abweichung. Kommt dir bekannt vor? Klar, es ist dieselbe Dynamik, die wir immer wieder beim Gendermarketing kritisieren: Die männliche Variante eines Produkts als Standard, die weibliche Form als Abweichung (z. B. Mädchen-Ü-Ei).

„Nur lustig gemeint“ – ein strukturelles Problem

Transidentitäten werden mit jedem solcher Kommentare unsichtbar gemacht, nicht mitgedacht. Ihr eigenes Geschlecht wird trans Menschen abgesprochen, wenn sie nicht über die entsprechenden Genitalien verfügen. Das mag nach viel Interpretation und für manche sogar übertrieben klingen angesichts eines kleinen Satzes wie „Da fällt ihm der Penis ab“. Aber es sind ja eben genau die kleinen, alltäglichen Dinge und Witze, die Transfeindlichkeit zum strukturellen Problem machen. Beim Sexismus ist es nichts anderes: Auch dort kritisieren Feminist*innen unermüdlich sexistische Sprüche und Witze, die „nur lustig gemeint“ sind. Wenn wir (Cis-) Sexismus bekämpfen wollen, müssen wir ihm den Nährboden entziehen – und der besteht vor allem aus kleinen Alltäglichkeiten.

Gar nicht so lustig: Transfeindlichkeit

TW Suizid, Ableismus

Transfeindlichkeit ist ein ernstes Thema: 49 Prozent aller trans Menschen berichten, körperliche Gewalt erfahren zu haben aufgrund ihrer Transgeschlechtlichkeit, 80 Prozent aller trans Schüler*innen fühlen sich in der Schule nicht sicher und erschreckende 41 Prozent haben einen Selbstmordversuch hinter sich. Das liegt auch daran, dass Transgeschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft mit Ausgrenzung und Diskriminierung abgestraft wird. 19 Prozent aller Menschen in Deutschland – also fast jede*r Fünfte – halten Transsexualität für eine psychische Erkrankung, 16 Prozent sogar für eine körperliche Behinderung (Quelle). Diese Zahlen zeigen eindringlich: Transfeindlichkeit darf nicht ignoriert werden.

Huch, gar nicht bemerkt

Und ja, uns ist natürlich klar, dass die Kommentare nicht böse gemeint sind, dass da keine böse Absicht hintersteckt und die Kommentator*innen nicht unbedingt trans Menschen schaden wollen. Die Transfeindlichkeit ist nur ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Aber genau das ist ja das Problem: Die Transfeindlichkeit wird schlicht nicht bemerkt. Wir sind als Gesellschaft so sehr an Cisnormativität gewöhnt, dass sie uns nicht auffällt, sofern wir nicht selbst betroffen sind. Beim Goldenen Zaunpfahl glauben wir an eine bessere Zukunft. Eine Zukunft, in der sich Menschen unabhängig von künstlichen Zuschreibungen und Geschlechterrollen entfalten können. Deswegen gibt es unsere Initiative ja überhaupt. Und das gilt für trans Menschen selbstverständlich genauso wie für cis Personen. Insofern: Gendermarketing kritisieren: ja, bitte! Transfeindlichkeit reproduzieren: Bitte nicht.

Transflagge [Bild von Sharon McCutcheon (@sharonmccutcheon) via Unsplash]