Gastbeitrag von Jurymitglied Johanna Fröhlich Zapata
Johanna Fröhlich Zapata – Teil unserer famosen Jury dieses Jahr und Feminismus-Coachin – hat in ihrem Buch „Das Buch, das du gelesen haben solltest, bevor du Mutter wirst“ in elf Kapiteln die größten Fragen um Feminismus, Gleichberechtigung und Vereinbarkeit analysiert und mit erprobten Tipps für den Alltag aufbereitet. Wir sind sehr dankbar, hier einen Auszug dieses Buches vorstellen zu dürfen – enjoy!

„Das Buch, das du gelesen haben solltest, bevor du Mutter wirst“
Kapitel 10 (Auszug)
NORMEN ÜBER BORD WERFEN
»In unserem Alltag gibt es so viele Minisexismen, die durch ihre Häufigkeit und Frequenz einen gewaltigen Einfluss auf das haben, was wir als normal ansehen. Wir haben jede Menge blinder Flecken, weil wir irgendwann einmal gelernt haben, wie die Welt sortiert ist: in Mann-oder-Frau-Kategorien, in krank versus gesund, arm und reich und so weiter.«
WIE ES SEIN KÖNNTE – EINE UTOPIE
»Ich möchte diesen Pulli mit dem Glitzerkätzchen drauf!« Dein Sohn steht mit leuchtenden Augen in der Kinderabteilung, seine Stimme überschlägt sich fast, und er hüpft vor lauter Aufregung über den pinken Glitzerpulli von einem Bein aufs andere. Du nimmst ihm den Pulli ab, streichst gedankenversunken über die superkitschige Paillettenkatze und spürst, wie langsam die Endorphine in dir aufsteigen. Du hättest als Kind für einen solchen Pullover alles gegeben. Nur, dass du das als Mädchen offiziell durftest. Aber was bedeutet das jetzt für dich und deinen Sohn? Darf er als Junge so was überhaupt mögen? Darf er es besitzen, tragen und stolz darauf sein? Ja, er darf! Schließlich steht ihr am Beginn einer neuen Ära.
Es ist gerade mal sechs Monate her, dass sich eine riesige Menschenmenge vor diesem Laden versammelt hat. Mit Hunderten von Eltern aus eurer kleinen Stadt habt ihr auf dem regennassen Kopfsteinpflaster gestanden und mit Plakaten und Petitionslisten gegen das übertriebene Gendermarketing der Filiale demonstriert. Ihr habt viel Herzblut, Überzeugungsarbeit und Kraft in diese Aktion investiert, aber spätestens jetzt, in diesem Moment, weißt du, dass sich das alles gelohnt hat. Für dein Kind. Und für all die anderen Kinder, die sich nun nicht mehr »falsch« fühlen müssen. Dein Blick schweift über die vielen Kleiderständer, die nicht mehr nach Geschlechtern, sondern nur noch nach Größen und Farben sortiert sind, sodass der Raum wirkt wie ein Palast, über dem ein riesiger Regenbogen zerplatzt ist. Hinten an der Wand steht der Filialleiter und begutachtet ein neu dekoriertes, knallbuntes Schaufenster. Er sieht dich an, und du zeigst ihm stumm lächelnd den Pullover, während deine Lippen ein lautloses »Danke« formen. Er versteht, nickt zufrieden und zwinkert dir und deinem Sohn zu. Vielleicht weiß er, wie wertvoll seine Arbeit hier ist. Vielleicht hat er aber auch nicht den Hauch einer Ahnung, was die Auflösung der Mädchen- und Jungsabteilung bei euch in der Stadt wirklich für eure Kinder verändert hat. Gestern erst hast du Leon stolz wie Bolle mit einer Plüschhandtasche gesehen, in der all seine Matchboxautos steckten, und Joschi trug beim letzten Kindergartenfasching ein Prinzessinnenkleid, als wäre es nie anders gewesen und man(n) schon immer genau das sein und anziehen durfte, was man(n) möchte. Bob, der Baumeister, Feuerwehrmann Sam oder halt eine verdammte Prinzessin.
So what?
Als wäre das Tragen einer violetten Leggins für Jungs oder eines FC-Bayern-Trikots für Mädchen schon so etwas wie ein vorzeitiges Outing, das verantwortungsbewusste Eltern nicht befördern sollten. Diskriminierender geht es kaum!
Du musst an die Gegenstimmen denken, als eure erfolgreiche Petition Schlagzeilen machte. Sie kamen besonders von Männern, die ihre Söhne vor der Ausgrenzung und Verachtung anderer schützen wollten. Ohne zu merken, dass in ihren eigenen Argumenten die eigentliche Verachtung lag. Dass sie getrieben waren von Ängsten, die eigentlich nur sie selbst betrafen. Sie hatten sich ein Leben lang verboten, »unmännlich« zu sein. Diese Prämisse ausgerechnet in einer Kinderabteilung abzuschaffen, hat natürlich auch Zweifler auf den Plan gerufen. Vorgeblich um Toleranz bemüht, betonten sie immer wieder, dass sie ja gar nichts gegen »solche Menschen« hätten, aber dass doch deshalb nicht schon Kinder so rumlaufen müssten. Als hätte die Freiheit, sich so zu kleiden, wie man möchte, eine sexuelle Komponente – selbst in der Kinderabteilung. Als wäre das Tragen einer violetten Leggins für Jungs oder eines FC-Bayern-Trikots für Mädchen schon so etwas wie ein vorzeitiges Outing, das verantwortungsbewusste Eltern nicht befördern sollten. Als wäre ein Outing überhaupt etwas, was es zu verhindern gälte. Es hat dich furchtbar wütend gemacht, aber dann warst du überrascht, wie schnell ihre Stimmen leiser wurden. Je mehr sich die Gegner eurer Aktion in der Minderheit fühlten, desto mehr verloren sie ihre Zweifel, weil mit der Masse an Befürwortenden auch ihre Angst vor Ausgrenzung schrumpfte. Und die wenigen Stimmen, die weiter hetzten, gingen im allgemeinen Jubel unter, als eine junge Nachwuchsführungskraft die Leitung der Filiale übernahm und die Chance sofort begriff und nutzte. Längst haben die anderen Läden der Stadt nachgezogen. Überall geht man dazu über, Spielzeug, Kleidung und jede andere Ware nicht länger nach dem Geschlecht der potenziellen Kund*innen zu trennen.
Vor ein paar Wochen war ein TV-Team hier und hat in der kleinen Fußgängerzone eine Umfrage durchgeführt. Du hast den Beitrag später in den Nachrichten gesehen. »Hier, an genau diesem Platz«, hat der Reporter gesagt, »startete die landesweite Bewegung gegen Gendermarketing. Und das sieht man.« Die Kamera machte einen Schwenk auf die Menschen auf der Straße, auf Dieter, dem in einem knöchellangen Mantel am wärmsten ist, auf Luise, die Holzfällerhemden für sich entdeckt hat, weil der feste Stoff so gemütlich ist und ihrer Figur so schön schmeichelt. Und auf Steffi, deren kleiner Sohn einen Puppenwagen übers Pflaster schob. Der Beitrag hat dich so stolz gemacht. Stolz auf deine Stadt, in der sich die Menschen nicht zufriedengeben mit einem »Das war schon immer so«. An keinem anderen Ort dieser Welt würdest du lieber sagen: »Ich bin zu Hause!« Und die Wurzel dieses Glücks liegt in der Kinderabteilung dieses Kleidungsgeschäfts.
WIE ES IST – DIE RAUE WIRKLICHKEIT
Das Tückischste am Patriarchat ist, dass wir es oft gar nicht mehr bemerken. Unser Gehirn ist sehr darauf programmiert, Abweichungen zum Gewohnten zu finden, und weniger darauf, das Gewohnte zu hinterfragen.
Deshalb brauchen wir jemanden, der uns auf vermeintliche Selbstverständlichkeiten hinweist und sie einmal demontiert. Das verstehe ich als eine meiner wichtigsten beruflichen Aufgaben, wenn nicht sogar die allerwichtigste. Denn an den bestehenden Strukturen und Mustern können wir nur dann etwas verändern, wenn wir sie analysieren, reflektieren und durchschauen. Gendermarketing ist dafür ein gutes Beispiel, es generiert ein System der Unterdrückung, in denen Mädchen und Jungen im Grunde vorgeschrieben wird, was sie tragen und schön finden sollen und womit sie spielen können. Damit werden ihnen die hübsch in männlich und weiblich vorsortierten Aufgaben spielerisch übergeholfen: Mädchen spielen mit Puppen, um später die Kinder zu hüten. Jungs spielen Pirat, um später rabiat zu erobern. Ist das nicht schrecklich?
Anstrengend, wenn so viel gemeckert wird? Mag sein! Aber nehmen wir doch mal das Beispiel Filme: Ein Film wie Frozen, in der die Eiskönigin nicht durch einen Prinzen, sondern durch die Liebe ihrer eigenen Schwester gerettet wird, gäbe es gar nicht, wenn nicht irgendwann mal jemand den Bechdel-Test erfunden hätte, um zu verdeutlichen, dass Hollywood und Co. in ihren Filmen jede Menge sexistische Klischees reproduzieren. Um den Test zu bestehen, müssen lediglich drei Fragen mit Ja zu beantworten sein:
- Gibt es mindestens zwei weibliche Charaktere?
- Sprechen diese Figuren miteinander?
- Unterhalten sie sich über etwas anderes als über einen Mann?
Du glaubst nicht, dass es (viele) Filme gibt, die so einen simplen Test nicht bestehen? Oh doch! Erfolgreiche Filme wie König der Löwen, Mission Impossible, Star Wars oder einige Teile von Herr der Ringe haben es nicht durch den Test geschafft. Verrückt, oder? Immerhin: In der neuen Version von König der Löwen wurden extra Szenen eingefügt, in denen sich zwei weibliche Charaktere unterhalten, und das beweist: Die Dinge können sich ändern, wenn sie angeprangert werden.
Das Tückischste am Patriarchat ist, dass wir es oft gar nicht mehr bemerken.
In unserem Alltag gibt es so viele Minisexismen, die durch ihre Häufigkeit und Frequenz einen gewaltigen Einfluss auf das haben, was wir als normal ansehen. Wir haben jede Menge blinder Flecken, weil wir irgendwann einmal gelernt haben, wie die Welt sortiert ist: in Mann-oder-Frau-Kategorien, in krank versus gesund, arm und reich und so weiter. Viele Informationen sortieren wir nach diesem Prinzip. Und was nicht passt, fällt einfach raus. Dabei gibt es ein spannendes Phänomen, das das Ganze untermauert und verstärkt: Es ist der sogenannte Confirmation Bias, zu Deutsch: Bestätigungsfehler. Wenn ein Junge wild spielt, wird es seinem Jungesein zugeschrieben: »Jungs sind eben so.« Ein wild spielendes Mädchen wird zur Ausnahme, die die Regel bestätigt. Wir lieben Informationen, die uns in unserer Meinung bestätigen und in unser Weltbild passen. Das gibt Sicherheit und läuft total unbewusst.
Aus dieser Verzerrung heraus wird Feminismus gern als eine Bewegung eingeordnet, die Männer auslöschen will und sie als inhärentes Problem der Gesellschaft darstellt. Dabei ist Feminismus eigentlich das Gegenteil von Geschlechterkampf! Es ist ein Synonym für Chancengleichheit und ein respektvolles Miteinander. Andererseits wirst du dieses Buch vielleicht unbewusst als »eher untypisch weich für ein feministisches Buch« einordnen. Ertappt! Zwinker, zwinker! Ich glaube, radikale Freundlichkeit und Information sind unsere größten und besten Waffen im Kampf gegen Sexismus in Kunst, Kultur, im Berufs- und im Privatleben. Denn wenn wir aufmerksam machen, werden andere aufmerksam, die wiederum andere aufmerksam machen können.
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WAS DU TUN KANNST
Wir können durch respektvolles Verhalten ein Umdenken provozieren.
1. GIB ALLTAGSSEXISMEN KEINE CHANCE
Ist es wirklich so entscheidend, ob Mädchen Blau oder Rosa tragen und Jungs mit Puppen oder Plastikschwertern spielen? Hängen wir uns da nicht an banalen Äußerlichkeiten auf? Nein, denn diese vermeintlichen Äußerlichkeiten sind eben nicht banal, sie sind Teil eines patriarchalen Systems, das schon bei Kindern Geschlechterstereotypen zementiert. Oder wer, glaubst du, wird später die Fürsorgearbeit übernehmen? Die Mädchen, die mit der Puppe spielen, oder die Jungs, die eher so Abenteuersachen machen und mutig und stark sein sollen und nicht so emotional? »Wer sich fürsorgliche Väter und gleichberechtigte Partner wünscht, muss Männer in die Care- und Fürsorgearbeit einbeziehen, von Anfang an«, schreibt die Initiative Goldener Zaunpfahl, die seit 2017 den gleichnamigen Preis vergibt, um misslungenes Gendermarketing sichtbar zu machen. Unternehmen und ihre Marketingabteilungen sollen damit zu einem Umdenken motiviert werden. Denn was lernen Kinder ansonsten aus einem »Papa & me«-Werkzeugset oder einer »Toiletteputzen ist ein lustiges Mädchenspiel«-App? Eben!
Natürlich, wenn du einen Shop dazu bringst, seine gesamte Genderpolitik zu überdenken und die Einkaufsflächen neu zu sortieren, ist das ein großartiger und weithin sichtbarer Erfolg. Aber auch mit deinen Kaufentscheidungen trägst du zu einem Umdenken bei, mit dem, was du für dich selbst und deine Kinder kaufst und was du an andere Kinder verschenkst. Im Alltag genau hinzusehen (und hinzuhören) und dich selbst und andere für solche Geschlechterstereotypen zu sensibilisieren, kann schon viel bewirken. Im Praxistipp Nr. 2 erfährst du, wie du das am besten kommunizierst. Gute Argumente zum Thema findest du auch in den FAQs des Goldenen Zaunpfahls in der Rubrik »Bullshitbingo des Gendermarketing«.
2. REDE ÜBER DEINE EINSICHTEN
Das, was du selbst erkannt und gelernt hast, an andere weiterzugeben, ist enorm wichtig, denn nur so können Veränderungen auf den Weg gebracht werden. Ich entleihe deshalb der politischen Bildungsarbeit, genauer der Kampagne <5 (Kleiner Fünf ) das Konzept der »Radikalen Höflichkeit«. (Beste Grüße!) Es ist nämlich auch eine hervorragende Behandlungsmethode bei Symptomen von Sexismus!
Radikal höflich zu sein bedeutet, auch bei hitzigen Themen respektvolle Gespräche zu führen, Meinungsverschiedenheiten anzuerkennen, Gemeinsamkeiten zu suchen und damit Rückgrat zu zeigen und die eigene Haltung einzubringen.
Radikale Höflichkeit ist der Versuch, durch eine respektvolle Haltung ein Umdenken zu provozieren, Unachtsamkeit zu entlarven oder zumindest klarzumachen: »Was du hier sagst, geht für mich gar nicht!«
Radikale Höflichkeit ist ein fairer Weg, persönliche Grenzen zu markieren und Grenzüberschreitungen Einhalt zu gebieten. Und das – auch wenn es paradox klingt –, indem wir unser Gegenüber ernst nehmen, uns nicht provozieren lassen, gezielt nachhaken und konkret werden. Dabei kann es helfen, der Wut vorher in einem geschützten Raum (wie Therapie oder Coaching) freien Lauf zu lassen, damit sie im Gespräch dann nicht doch plötzlich unhöflich in den Raum poltert.
Radikale Höflichkeit heißt nicht, anerzogen höflich und angepasst zu sein (und eventuell gar nichts zu sagen), sondern wirklich »Nein!« zu rufen, bloß mit Kontrolle über die Lautstärke.
Radikale Höflichkeit bietet eine Form, eine Haltung, eine Anleitung, um über Unverhandelbares zu sprechen. Sie ermöglicht ein respektvolles Gespräch, auch wenn wir entgegengesetzter Meinung sind. Oft und gerade weil dir das Gegenüber etwas bedeutet.

Von der Utopie über die Realität zu praktischen Handlungsimpulsen – danke Johanna!
Noch mehr Alltagsbeispiele und Praxistipps zum Umgang mit Problemen, die durch patriarchale Strukturen unserer Gesellschaft – wie beispielsweise die klassischen Geschlechterrollen – geprägt sind, kannst du in Johannas Buch „Das Buch, das du gelesen haben solltest, bevor du Mutter wirst“ oder ihrem Blog nachlesen – zum hören gibt es dazu noch den Rbb Kultur Podcast „Die Alltagsfeministinnen”, in dem Johanna gemeinsam mit Journalistin Sonja Koppitz eben diese Themen an realen Fällen erläutern.
(sb)