Gastbeitrag von Anna Strunk
Das Schulbuch ist eines der ältesten Medien des Unterrichts und trotzdem sorgt es immer wieder für aktuelle Kontroversen. Das zeigte sich auch dieses Jahr, als Eltern durch das Homeschooling die Unterlagen ihrer Kinder noch häufiger zu Gesicht bekamen und sich erschreckt zeigten aufgrund der veralteten, teils sexistischen Materialien. Schnell stellte sich die Frage: Sind „unsere“ Schulbücher sexistisch?
Schulbücher sachlich und kritisch hinterfragen
Zeit, tief durchzuatmen und Schulbücher sachlich und kritisch zu hinterfragen. Vor diesem Hintergrund entstand die folgende Mini-Studie, die sich mit der Forschungsfrage beschäftigte, wie die Diversität der Geschlechter und Sexualitäten in drei NRW EFL (English as a Foreign Language) Schulbüchern für die fünfte Klasse in Texten, Aufgabenstellungen und Abbildungen dargestellt wird. Die Studie entstand im Rahmen des Praxissemesters im Master of Education an der Universität Münster. Sie bestand aus einer quantitativen Analyse, bei der Namen, Nomen und Pro-nomen gezählt wurden und einer qualitativen Analyse, bei der Aspekte wie Sexualität, Hobbies und Freizeit, Kleidung und Berufe untersucht wurden. Angelehnt war das Vorgehen an die Studien von Melanie Bittner und Nora Benitt/ Jürgen Kurz.
Aber warum überhaupt eine Studie zu Geschlecht und Sexualität in Englisch-Schulbüchern,
von der Aktualität des Themas einmal abgesehen? Themen wie Sexualität und Geschlecht sind in der Schule schlicht wichtig, weil sie es auch im „echten“ Leben sind. Geschlechternormen und Sexualität haben großen Einfluss auf unseren Alltag und Handeln. Das ist besonders bei Kindern und Jugendlichen der Fall, die mit den verschiedensten Voraussetzungen und Hintergründen den Klassenraum betreten. Der Fremdsprachenunterricht bietet dabei beson-ders großes Potential, um über diese Aspekte zu reden, da dort Themen wie difference oder Otherness im Bereich der interkulturellen kommunikativen Kompetenz eine große Rolle spielen (vgl. König/Lewin/Surkamp 2016: 22). Wichtig dabei ist aber, dass die Themen nicht einfach stumpf angesprochen, sondern quasi in den Unterricht „eingeflochten“ werden, z.B. durch Litera-tur. Um das umzusetzen werden optimalerweise sog. „gendersensible Aufgaben“ verwendet, bei denen Geschlechterunterschiede entdramatisiert und Stereotype kritisch hinterfragt und dekon-struiert werden (vgl. Mittag 2015: 251ff).
Die Ergebnisse der quantitativen Analyse fielen eindeutig aus: in allen drei Schulbüchern gibt es einen ausgeglichenen Anteil an weiblichen und männlichen Charakteren. Das liegt unter anderem daran, dass jedes Buch eine feste „Clique“ von Kindern/Jugendlichen hat, die die Schüler*innen durch das Buch begleiten und welche immer aus Mädchen und Jungen bestehen. Dass dieses Ergebniss so deutlich ausfällt, liegt aber auch daran, dass die Charaktere sehr klar einem Geschlecht zugeordnet sind (z.B. durch Namen, Kleidung, Pronomen etc.). Es gibt keine, die sich nicht dem binären Spektrum zuordnen lassen. Positiv aufgefallen ist, dass alle drei Bücher in ihren Aufgaben gendern, also z.B. „he/she“ oder „girl/boy“ verwenden (z.B. Camden Town 2012: 11&30). Doch auch hier bleibt es bei der binären Aufteilung, ein drittes Pronomen wie „they“ wird nicht angeboten.
Auch die qualitative Analyse fiel ambivalent aus. Gut gelungen ist, dass zumeist explizit darauf geachtet wurde, „klassische“ Stereotype und Klischees aufzubrechen. Das betrifft zum Beispiel die Lieblingsfächer oder auch Hobbies und Freizeitbeschäftigungen der Kinder/Jugendlichen.

Auch im Bereich der Kleidung gibt es keine starke Stereotypisierung.
Beide Geschlechter tragen alle Farben, wenn auch die Mädchen/Frauen häufiger rosa und pink tragen als die Jungen/Männer. Die Art der Kleidung ist ebenfalls nur leicht unterschiedlich. Mädchen/Frauen sind zwar die einzigen, die Kleider oder Röcke tragen, sie tragen aber mindestens genauso häufig Hosen oder Jeans.

(Weisshaar 2014: 9)
Das Ergebnis im Bereich der sexuellen Diversität viel sehr eindeutig aus: In keinem der drei Bücher gibt es Paare, die nicht heterosexuell (und in den meisten Fällen verheiratet) sind. Homosexualität, Bisexualität, Asexualität und andere sexuelle Orientierungen finden in den Büchern keinerlei Platz.
Das Fazit aus der Studie fällt gemischt aus:
Vieles wurde bereits gut umgesetzt, wie die quantitativ gerechte Aufteilung zwischen den binären Geschlechtern oder stereoty-penfreie Verteilung von Bereichen wie Lieblingsfächer und Hobbies. Nichtsdestotrotz fällt die starke Fokussierung auf die binären Geschlechter „weiblich“ und „männlich“ negativ auf, hier wäre definitiv mehr Vielfalt wünschenswert. Das Gleiche gilt für sexuelle Vielfalt, die es in den Büchern schlicht nicht gibt. Damit werden die Schulbücher der Prämisse, dass sie besonders „au-thentisch“ sein sollen, nicht gerecht. Sie sind aber nicht nur unauthentisch, sondern nehmen Kin-dern/Jugendlichen aus sog. „Regenbogenfamilien“ die Möglichkeit, sich mit den Familien und Charakteren in den Büchern zu identifizieren. Nur eine Repräsentation aller Lebensformen kann dabei helfen, Diskriminierung von LGBTQI+ im Bildungsbereich zu verhindern und so eine faire Lernumgebung für alle zu schaffen (vgl. Bittner 2011: 7). Auch die vollkommene Abwesenheit von gendersensiblen Aufgaben in den drei Schulbüchern spricht dafür, dass dem Thema in kommenden Schulbüchern einen größeren Stellenwert eingeräumt werden muss. Die hier be-schriebene Studie hat allerdings nur einen kleinen Ausschnitt aller deutschen Schulbücher unter-sucht, es wäre also wünschenswert, wenn das Thema in einem größeren Rahmen weiter erforscht würde.
Der etwas halbherzige Umgang mit der Vielfalt von Geschlecht und Sexualität zeigt sich auch am Beispiel der Überschrift dieses Artikels. Während die Aussage „Girls can’t swim like boys (…)“ (Rademacher 2013: 35) zunächst einmal die Sexismus-Warnglocken schrillen lässt, stellt der Junge im Buch fest, dass das Mädchen nicht nur gut schwimmen kann, sondern sie ist sogar die beste Schwimmerin der ganzen Stadt. So werden Geschlechterklischees durchaus kri-tisch hinterfragt. Schade ist nur, dass nicht noch einen Schritt weiter gegangen wird und daraus eine gendersensible Aufgabe und vertiefte Diskussion geschöpft wird. Das müssen dann die Lehrkräfte tun, eine Aufgabe, die durch das Homeschooling noch weiter erschwert wurde.
Empfehlenswert für Lehrkräfte:
Goldstein, Tara (2019): Teaching Gender and Sexuality at School. Letters to Teachers. Routledge.
Primärliteratur:
Camden Town 1. Gymnasium. Textbook 1. (2012). Diesterweg.
Rademacher, J. (Hg.) (2013). English G – Access 1. Schülerbuch. Berlin: Cornelsen.
Weisshaar, H. (Hg.) (2014): Green Line 1. Bundesausgabe ab 2014. Schülerbuch. Klasse 5. Stuttgart: Ernst Klett Verlag.
Sekundärliteratur:
Benitt, N.; Kurtz, J. (2016). Gender Representation in Selected EFL- Textbooks- A Diachronic Perspective, in: Daniela Elsner; Viviane Lohe (Hg.): Gender and Language Learning. Re-search and Practice. Tübingen: Narr Francke Attempto, 169-188.
Bittner, M. (2011). Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bise-xuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern. (Eine gleichstellungsorientierte Ana-lyse von Melanie Bittner im Auftrag der Max- Traeger- Stiftung). Frankfurt: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
König, Lotta/ Lewin, Sonja/ Surkamp, Carola (2016): „What Does It Mean to Teach About Gen-der? Gender Studies and Their Implications for Foreign Language Teaching”, in: Elsner, Daniela/ Lohe, Viviane (Hg.). Gender and Language Learning. Research and Practice. Tübingen: Narr Francke Attempto, 19-36.
Mittag, M. (2015): Geschlecht als leerer Signifikant. Gendersensible Didaktik im Fremdspra-chenunterricht, in: Wedl, J.; Bartsch, A. (Hg.): Teaching Gender? Zum reflektierten Um-gang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung. Bielefeld: Transcript.